Ökologische Wahrheit langfristig wirtschaftlicher
Seit über 30 Jahren setzt sich Prof. Dr. Anja Grothe von der HWR Berlin dafür ein, dass die Themen Umwelt und Nachhaltigkeit in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft mehr in den Fokus rücken.
Zur Person
Prof. Dr. Anja Grothe ist Professorin für Nachhaltigkeitsmanagement an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin), Mitbegründerin des Instituts für Nachhaltigkeit und von SUSTAINUM Consulting.
Frau Prof. Grothe, Sie sind eine der Wegbereiterinnen auf dem Wissenschaftsgebiet der Nachhaltigkeit. Was macht Nachhaltigkeit für Sie aus?
Für mich ist Nachhaltigkeit der Inbegriff verantwortlichen Wirtschaftens.
Es ist schlichtweg unwirtschaftlich, mehr Ressourcen zu verbrauchen als zur Verfügung stehen und sich auf Kosten anderer zu bereichern. Wenn Preise die ökologische Wahrheit widerspiegeln würden, wäre das längerfristig wirtschaftlicher.
Nachhaltigkeit war schon Gegenstand meiner Dissertation und ein wichtiges Thema in meinen ersten Jobs, zum Beispiel bei der damaligen Schering AG. Ich schulte und motivierte Mitarbeitende im Bereich des Umweltschutzes. Mit diesem praktischen Hintergrund habe ich dann drei Studiengänge zu Umwelt und Nachhaltigkeit an der HWR Berlin aufgebaut.
Heute wird der Begriff Nachhaltigkeit beinahe schon inflationär verwendet. In welchem Zusammenhang ist er aus Ihrer Sicht fehl am Platz?
Wenn allem der Stempel Nachhaltigkeit aufgedrückt wird, ist das Green- und Bluewashing. Diese Beliebigkeit gibt es leider zunehmend. Denken Sie zum Beispiel an die EU-Taxonomie zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen. Dass diese Verordnung Atomkraft als nachhaltig bezeichnet, führt das Ganze noch mehr ad absurdum.
Es gibt Unternehmen, die schon lange wirklich nachhaltig wirtschaften.
Ja. Und diese stehen jetzt viel besser da als jene, die das nur als strategische Option behandelten oder Nachhaltigkeit als reines Umweltthema abtaten. Gerade die Verbindung zwischen Umweltthemen und sozialen Themen ist oftmals die Bedingung für eine gute Unternehmenskultur und inzwischen auch Chance und Wettbewerbsvorteil, nicht zuletzt um neue Mitarbeitende zu gewinnen.
Wann und wodurch gelangte das Thema ins öffentliche Bewusstsein? Gab es einen Wendepunkt oder konkrete Auslöser?
Wir Nachhaltigkeitswissenschaftler*innen erachten die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio als Wendepunkt. Danach verbreitete sich eine Aufbruchsstimmung. Staats- und Regierungsverantwortliche von 178 Staaten unterzeichneten eine Deklaration und erkannten das Konzept der nachhaltigen Entwicklung als internationales Leitbild an. Mit der Definition von 27 Grundsätzen wurde versucht, das Ganze in Politik zu übersetzen und festgehalten, dass Entwicklung nicht zu Lasten der Menschheit und der Umwelt gehen darf.
Dahinter stand die Erkenntnis, dass es kein zukunftsfähiges Wirtschaften geben kann, ohne Umwelt- und soziale Aspekte des Wirtschaftens zu berücksichtigen.
Wo stehen wir 30 Jahre später?
Auch wenn der Aufbruch von damals nach und nach etwas versickerte, gilt die Rio-Konferenz mit ihrem Aktionsprogramm, der Agenda 21, unter anderem als Mutter späterer Klimaschutz-Abkommen sowie der acht Millenniums-Entwicklungsziele und der 2015 verabschiedeten 17 Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen. Die Feststellung, dass die Menschheit insgesamt über ihre Verhältnisse lebt und der Umweltraum limitiert ist, es planetare Grenzen gibt, ist ins allgemeine Bewusstsein gerückt. Das hat den Fokus auf inter- und intra-generative Gerechtigkeit gelenkt, einen Aspekt, der dem Begriffsverständnis von Nachhaltigkeit zugrunde liegt.
Aus Einsicht oder doch gezwungener Maßen?
Krisen markieren Wendepunkte, zwingen zum Umdenken. Lange wurde Nachhaltigkeit als ein „Weiter-so-wie-bisher, nur etwas effizienter“ verstanden. Wir sehen aber gerade jetzt, dass die Unternehmen, die in ihrem Geschäftsmodell die Transformation hin zu einem anderen Wirtschaften verinnerlicht und ihre Lieferketten im Blick hatten, die die Kreislaufwirtschaft ernst nahmen, jetzt besser aufgestellt sind.
Wie reagiert die Wirtschaft auf die wachsende Bedeutung ökologischer und gesellschaftspolitischer Zielstellungen?
Eine der relevanten Akteursgruppen zur Umsetzung der 1992 aufgestellten lokalen Agenden 21 sind Unternehmen. Lippenbekenntnisse nach dem Motto „Wir tun doch schon alles“ reichten und reichen auch heute nicht aus, müssen mit Fakten und Maßnahmen untermauert werden. Die „Tell-Me“-Phase führte zur Entwicklung von Umweltmanagementsystemen und deren Überprüfung wie dem Umweltmanagementsystem EMAS und der DIN EN ISO 14001. Pionierunternehmen erkannten die Bedeutung davon und so entstand das Fachgebiet Umweltmanagement, das mehr von der betrieblichen Relevanz geprägt ist, als von der betriebswirtschaftlichen Theorie.
Wie wird das in der Praxis gelebt?
Seit der Jahrtausendwende spielt es zunehmend eine Rolle, wie Unternehmen die Nachhaltigkeits-Formel „People, Planet, Profit“ anwenden und das öffentlich machen. Die Berichterstattung erfolgt über freiwillige unternehmerische Umweltberichte. Es wurden Unternehmensnetzwerke gegründet, zunächst für den betrieblichen Umweltschutz, später auch für unternehmerische Nachhaltigkeit wie der Bundesdeutsche Arbeitskreis für Umweltorientiertes Wirtschaften (B.A.U.M. e. V.) und UnternehmensGrün (heute Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft e. V.).
Nachhaltigkeit insgesamt wird als Handlungsfeld des zukunftsfähigen Wirtschaftens wahrgenommen. Allein auf technischen Umweltschutz zu setzen oder auf Compliance zu achten, reicht nicht mehr aus, es braucht neue Visionen.
Nachhaltigkeitsmanagement gehört in allen Bereichen von Wirtschaft und Verwaltung inzwischen zum Pflichtprogramm. Ist das oft nur Greenwashing oder durchaus ernst gemeint?
Das ist pauschal nicht zu beantworten. Wenn Organisationen das nur als Pflichtprogramm verstehen, ändert sich nichts. Ich bezeichne das als „Häkchenmanagement“. Es werden Leitsätze verabschiedet, es gibt eine Nachhaltigkeitsstrategie und Verantwortliche dafür. Aber es verändert sich nichts, zumindest nichts Wesentliches. Eine Fahrrad-Reparaturstation ist ganz nett, aber betrifft nicht das Kerngeschäft.
Wenn ich als Bank einen Nachhaltigkeitsfond auflege, aber weiter Geldpolitik wie bisher betreibe, macht mich das eben nicht zu einer nachhaltigen Bank. Wenn ich als Hochschule alle Module so belasse wie bisher, das Thema Nachhaltigkeit ins Studium Generale „abschiebe“, ist das nur die Minimalumsetzung eines Pflichtprogramms.
Nachhaltigkeit muss in den Köpfen etwas verändern und im Kerngeschäft – und das macht es so schwierig.
Wenn Sie Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit beraten, was steht für Sie dabei im Vordergrund?
Ich übersetze Nachhaltigkeit gern mit dem Begriff „Enkeltauglichkeit“, damit klar wird, worum es eigentlich geht. Nicht verwunderlich, dass das Thema bei Familienunternehmen eigentlich immer auf der Agenda steht. Mein Forschungsbereich ist die Bewertung von Nachhaltigkeit. Erst wenn ich weiß, wie ich die komplexe Vision von Nachhaltigkeit operationalisieren kann, erkenne ich, wo mein Unternehmen steht und was ich mir vornehmen sollte. Dafür habe ich das Bewertungstool KIM – das steht für Kriterien- und Indikatorensystem zur Bewertung von Nachhaltigkeit – entwickelt und in Drittmittelprojekten wie dem NBB – Nachhaltiges Wirtschaften für Berliner Betriebe zur Anwendung gebracht. Mit Studierenden des Masterstudiengangs Nachhaltigkeits- und Qualitätsmanagement (NaQM) haben wir das in Praxisprojekten bei der Berlin Partner für Wirtschaft und Technologie GmbH, bei den Elbe Flugzeugwerken, bei erlich textil und anderen Unternehmen umgesetzt.
Was ist das Besondere an diesem Ansatz?
KIM beinhaltet die Erfassung relevanter Kennzahlen, als auch die Erfassung subjektiver Daten über die Meinung der Beschäftigten. Denn Nachhaltigkeit geht nur gemeinsam. Man muss Brücken bauen und die Unternehmenskultur im Blick haben.
Veränderungen müssen gewollt und gelebt werden. Erst so wird aus »Häkchenmanagement« ein nachhaltiger Veränderungsprozess.
Wie haben Sie dieses Wissen in das Studium hineingetragen?
Als Absolventinnen und Absolventen begannen, sich gezielt Unternehmen mit umweltbewusstem Handeln auszusuchen, war es an der Zeit, dass Hochschulen ihr Studienangebot darauf ausrichten. In dieser Zeit wurden die ersten wenigen Professuren und Lehrstühle für Nachhaltigkeitsmanagement eingerichtet. An unserer Hochschule wurde das Kapitel mit einem berufsbegleiteten Abendstudium aufgeschlagen. Damals durfte ich als Lehrbeauftragte den Studiengang entwickeln. Zuvor hatte ich für das Berufsfortbildungswerk einen Studiengang „Technischer Umweltschutz“ konzipiert. Aus dem Zertifikatsstudiengang „Umwelt- und Qualitätsmanagement“ am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften wurde der Master „Nachhaltigkeits- und Qualitätsmanagement“ an der Berlin Professional School (BPS), dem Weiterbildungsinstitut der HWR Berlin. Es braucht sehr viel mehr Wissen in den Unternehmen über die Komplexität von Nachhaltigkeit.
Bei welcher Gelegenheit haben Sie vor kurzem innegehalten und dann anders, bewusst nachhaltig gehandelt?
Das mache ich eigentlich täglich. Es gibt so vieles, was jeder und jede etwas anders machen oder am besten auch lassen kann.
Als Hochschullehrerin nehmen Sie jetzt Ihren Abschied und schlagen ein neues Kapitel auf. Was planen Sie für den »Un-Ruhestand«?
Ich habe schon vor langem SUSTAINUM Consulting gegründet und kann dort nun intensiver mitwirken. Zwei konkrete Projekte gibt es schon. Ich baue für die Versicherungswirtschaft ein neues Masterprogramm „Nachhaltigkeitsmanagement“ auf. Daneben berate eine große Hochschule und begleite sie in dem Prozess, zur Hochschule der Zukunft zu werden. Darüber hinaus stehen einige KIM-Projekte an. Und um ehrlich zu sein, freue ich mich auch auf vorlesungsfreie Abende und Wochenenden. Denn so sehr ich meine Arbeit an der HWR Berlin geliebt habe, so bedeutete das auch seit 30 Jahren Lehre oft am Abend und an den Wochenenden.
Wenn Sie auf die letzten 31 Jahre zurückblicken, was erfüllt Sie mit besonderer Zufriedenheit, worauf sind Sie stolz?
Der Studiengang NaQM ist der am längsten existierende berufsbegleitende Studiengang zum Thema Nachhaltigkeit. Wir haben circa 400 Absolventinnen und Absolventen im Nachhaltigkeits- und Qualitätsmanagement qualifiziert. Eine Alumna ist gerade Nachhaltigkeitsbeauftragte der Messe Berlin geworden, eine andere leitet die Nachhaltigkeitsabteilung der Bio-Firma Lebensbaum. Darauf bin ich wirklich stolz. Es hat mir enormen Spaß gemacht, diese besonderen Studierenden zu begleiten. Und es erfüllt mich mit großer Dankbarkeit, dass die Hochschulleitungen und die Leitungen der BPS mich immer darin unterstützt haben, diesen Studiengang weiterzuentwickeln, auch wenn es Phasen gab, in denen das nicht selbstverständlich war.
Frau Prof. Grothe, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Sylke Schumann, Pressesprecherin der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin).